1 Die Tradition des gemeinsamen Aufstiegs (1890–1914)

Die Sozialdemokratie entstand als „neue“ Partei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei es in diesem Sinne kaum ältere Parteien gab. Zwar hatte es in verschiedenen Landesparlamenten schon seit 1816 Fraktionen gegeben, aber feste Parteistrukturen entwickelten sich erst im Parlament in der Frankfurter Paulskirche 1848. Der 1863 von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein besaß bereits eine kontinuierliche Parteiorganisation. Das war bereits ein großer Fortschritt gegenüber den unorganisierten politischen Bewegungen in den deutschen Fürstenstaaten. Die Arbeiterbewegung war damit Vorreiter der politischen Organisierung. Schon vor 1848 hatten sich Arbeiter gewerkschaftlich zusammengeschlossen und waren während der Revolution in deutschen Städten auf die Barrikaden gegangen. Die Restauration führte zu einer Rückdrängung dieser Entwicklung, unter anderem durch gerichtliche Verfahren wie den Kommunistenprozeß 1852 in Köln.

Der Rheinländer Lassalle, ein Sohn reicher jüdischer Kaufleute aus Breslau, hatte früh erkannt, daß dem Bürgertum die Kraft zur revolutionären Umwälzung der Verhältnisse fehlte und setzte mit der Gründung seines Arbeitervereins politisch auf die Masse der Unterschicht. Der Handwerker August Bebel und der Bürger Karl Liebknecht folgten 1869 mit einer Parteigründung in Eisenach. 1876 fusionierten die beiden Arbeiterorganisationen in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Zwei Jahre später erließ der Reichskanzler Otto von Bismarck das Sozialistengesetz, das den Anhängern der Partei jede politische Propaganda verbot und sie als Reichsfeinde diffamierte. Bis zu seiner Aufhebung 1890 durch den Reichstag bewirkte das Gesetz vor allem eine Solidarisierung der verfolgten Arbeiter, so daß die SPD nach ihrer Wiederzulassung zur Reichstagswahl 1890 prozentual die meisten Stimmen erhielt. Allerdings blieb ihr politischer Einfluß durch das in den meisten deutschen Ländern geltende Dreiklassen-Wahlrecht weit hinter ihrem Stimmenanteil zurück.

Auf ihrem Parteitag in Erfurt verabschiedete die SPD 1891 ein Parteiprogramm, das mit kleineren Modifikationen bis zum Parteitag von Bad Godesberg 1959 Bestand haben sollte. Den ersten Teil hatte Karl Kautsky in Anlehnung an das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßt. Er bestand in einer Analyse der ökonomischen, sozialen und politischen Situation als Begründung für die Existenz der SPD. Kautsky beschrieb die Zwangsläufigkeit der Monopolisierung, die Konzentration des Kapitals und die Entstehung von Klassengegensätzen. Aus diesen Entwicklungen müsse eine Krise der kapitalistischen Produktionsweise folgen. Als Beleg dienten ihm die krisenhaften Konjunkturschwankungen der frühen Industrialisierung. Der zweite Teil (formuliert von Eduard Bernstein) stellte eine stichwortartige Aufstellung der Ziele der SPD dar. Die Sozialdemokratie wolle den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat politisch organisieren, um den Klassengegensatz und jede Art von Ausbeutung und Unterdrückung einer Klasse, einer Rasse oder eines Geschlechts zu beenden. Erstmals trat hier eine politische Gruppierung mit dem Anspruch an, ihre Ziele nicht nur für sich bzw. ihre Klientel, sondern für die gesamte Gesellschaft zu verwirklichen. Bernstein forderte im einzelnen ein allgemeines gleiches und geheimes Wahlrecht (auch für Frauen), die Schlichtung internationaler Konflikte durch Schiedsgerichte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, ein Ende der Diskriminierung der Frau, die Unentgeltlichkeit des Schuklunterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den Schulen, die Unentgeltlichkeit ärztlicher Hilfeleistungen, den Schutz der Arbeiterklasse (Einführung des 8-Stunden-Tages) und das Verbot der Kinderarbeit. Das theorielastige Erfurter Programm wurde rasch auch innerhalb der SPD kritisiert. Georg von Volmar, der Vorsitzende der bayerischen Sozialdemokraten, plädierte für einen Übergang von der Theorie zur Praxis und eine organische Entwicklung vom Alten zum Neuen. Auch Bernstein selbst distanzierte sich bereits fünf Jahre später von seinem Entwurf, zunächst durch Artikel in der „Neuen Zeit“ („Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“), dann durch eine Unterstützung einer kritischen Resolution 1903 auf dem Parteitag in Dresden zu einer Resolution. Die Unterzeichner („Revisionisten“) forderten, den Begriff der Revolution zu überdenken, da sie nicht planbar sei und man zudem 1848 schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht hatte. Auch die Katastrophentheorie, nach der die kapitalistische Ökonomie zum Untergang veruteilt sei, zweifelten sie an. Bernstein selbst verwies auf die historische Funktion des Wahlrechts und seine Bedeutung für die Durchsetzung sozialistischer Ziele; er plädierte für eine intensivere Arbeit vor Ort in den Kommunen. Die Resolution wurde mit großer Mehrheit abgelehnt, die Modernisierung der SPD scheiterte. Ein weiterer grundsätzlicher Streitpunkt war der Massenstreik. Ein Teil der Sozialdemokraten wollte die Eroberung parlamentarischer Machpositionen, die durch das Dreiklassen-Wahlrecht verhindert wurde, mit dem Mittel eines Generalstreiks erreichen. Während das Projekt auf dem Parteitag in Jena 1905 begeistert angenommen wurde, erhoben die Gewerkschaften, auf deren Unterstützung die Partei stark angewiesen war, Einspruch gegen die politische Instrumentalisierung ihres Kampfmittels. Daraufhin wurde die Idee fallengelassen, nur wenige führende Sozialdemokraten wie Bernstein und Rosa Luxemburg, aber auch der designierte Nachfolger August Bebels, der Mannheimer Ludwig Frank („Wahlrechtsreform oder Massenstreik“) hielten an dem Vorhaben fest.

Der Wiederaufstieg demokratischen Denkens in Deutschland führte zu einem Zusammenschluß vieler Kleinparteien zur Deutschen Fortschrittspartei, die regional Bündnisse mit der SPD einging. Gleichzeitig gewann die SPD selbst immer breitere Zustimmung: 1890 erhielt sie 19,7% der Stimmen (1,5 Mill. Wähler), 1912 waren es bereits 35% (4,3 Mill.) oder 110 Reichstagsmandate; außerdem hatte sie 1 Million Mitglieder. Der Erfolg der SPD war auch eine eigene Nationalbewegung, d.h. eine Organisation der Bevölkerung als Nation zur Durchsetzung im eigenen Land. Lassalle hatte 1863 aus nationaldemokratischer Perspektive einen „Volksstaat“ angestrebt, sich aber gleichzeitig vom wilhelminischen Nationalismus – der ihn und seine Mitstreiter als „vaterlandslose Gesellen“ schmähte – abgegrenzt: Die Sozialdemokratie verstand sich als andere, aber nicht weniger partiotische Nation. Parallel dazu verlief die internationale Entwicklung. An der Zweiten Internationalen Arbeiterkonferenz 1889 in Paris nahmen Bebel, Liebknecht und der französische Sozialist Jean Jaurès teil. Ab 1907 war auch das Wettrüsten ein Thema der internationalen Arbeiterbewegung.

Im katholisch geprägten Köln gab es eine späte sozialdemokratische Bewegung, die 1892 mit der Gründung der Rheinischen Zeitung begann. Um 1900 nahm die Zahl der SPD-Mitglieder langsam zu, 1906 organisierte man den Protest gegen das Dreiklassen-Wahlrecht und 1908 bereits öffentliche Demonstrationen. 1912 schließlich gelang es in Zusammenarbeit mit der liberalen Fortschrittspartei, das Reichstagsmandat für Adolf Hofrichter (SPD) zu erobern. Es entstand – nicht nur in Köln – eine eigene sozialdemokratische Kultur aus Partei, Gewerkschaften, der Konsum-Genossenschaft, Gesangs- und Turnvereinen und der Volksbühne („Von der Wiege bis zur Bahre“).

Der gemeinsame Aufstieg stellt das „goldene“ Kapitel der sozialdemokratischen Geschichte dar. Alle Konflikte wurden intern ausgetragen und führten nicht zur Spaltung der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter standen mit ihrer Aufbruchsstimmung nicht allein: Auch der deutsche Katholizismus wandte sich der sozialen Frage zu, es entstand ab 1865 eine zunächst bürgerliche Frauenbewegung, um 1900 auch eine Jugendbwegung, Wirtschaftsverbände und Sportvereine verschiedener Couleur wurden gegründet, und die europäischen Nationalstaaten griffen im Kolonialismus über Europa hinaus.