Wellen und Regentropfen

Seit Jahren wird die gute, alte E-Mail unablässig geschmäht als unsicheres, veraltetes und unflexibles Medium, ohne dass das schlechte Renomée ihrer Verbreitung Abbruch getan hätte. Google höchstselbst bietet seit einigen Jahren einen sehr erfolgreichen E-Mail-Dienst an. Aber auch Gmail kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass E-Mail eben doch nur eine Nachbildung des staubigen Briefprinzips ist.

Die heutige Internetnutzerin will, wenn sie schreibt, von möglichst vielen Menschen wahrgenommen werden, und elektronische Post ist nicht zu verwechseln mit einem gelungenen Post. Nichtsdestotrotz haben Mozilla und Google vor kurzem zwei neue Rettungsversuche gestartet. Von Mozilla stammt das etwas konservativere Raindrop:

We hope to lead and spur the development of extensible applications that help users easily and enjoyably manage their conversations, notifications, and messages across a variety of online services. [...]

When a friend’s link from YouTube or flickr arrives, your messaging client should be able to show the video or photos near or as part of the message, rather than rudely kicking you over to a separate browser tab. Notifications from computers and mailing lists should be organized for you, not clutter your Inbox or require tedious manual filter setup.

Mit anderen Worten: Konsolidierung der Nachrichten aus verschiedenen Quellen in einem Browser-Fenster und automatische Filterung nach Relevanz.

Die zweite Idee hat Google zu einer der reichsten Firmen der Welt gemacht, was die Experimentierfreude offenbar (wenn auch nicht immer) befeuert: Das vielberaunte Google Wave führt nicht bloß verschiedene Kommunikationsstränge zusammen, sondern verschmilzt E-Mail, Blogs und IM-Nachrichten zu einer völlig neuen Form. Die Berichte vom Durcheinander der Blips, Waves und Widgets klingen allerdings nicht sehr einladend – mal ganz abgesehen davon, dass ich keine Einladung bekommen habe. Um ein leichtes Schwindelgefühl zu bekommen, genügt mir schon die Kurzbeschreibung:

A wave is equal parts conversation and document. People can communicate and work together with richly formatted text, photos, videos, maps, and more.

Klingt tatsächlich wie eine MySpace-Seite, aber...

A wave is shared. Any participant can reply anywhere in the message, edit the content and add participants at any point in the process. Then playback lets anyone rewind the wave to see who said what and when.

Schon besser. Person A lädt zwei neue Leute ein, während Person B ein Video (mit Ton) einbindet und Person C die einleitenden Worte von A ...

A wave is live. With live transmission as you type, participants on a wave can have faster conversations, see edits and interact with extensions in real-time.

Das ist es: Ein perfektes Rezept, um den Überblick zu verlieren. Alle Teilnehmer können mit verschiedenen Inhalten jonglieren, der Teilnehmerkreis kann sich jederzeit ändern, und einzelne Buchstaben erscheinen fortlaufend wie von Geisterhand. Frau Klopp, darf ich Ihnen das Riechsalz anreichen?

Wenn man das Wave-Konzept auf die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten reduziert – wie etwa in Google Docs – klingt es etwas weniger halluzinogen. Dann allerdings sollte man lieber gleich EtherPad verwenden – eine sehr gelungene Übertragung von SubEthaEdit ins Web (allerdings ohne Syntax Coloring und andere Entwicklerfunktionen).

Auf jeden Fall sind Raindrop und Wave keine direkten Konkurrenten – Raindrop könnte jetzt schon ganz praktisch sein, für Wave muss der neue Mensch verwirklicht werden, was bekanntlich auch im Kommunismus nicht wie geplant funktioniert hat. Auch wenn Google irgendwann erfolgreich sein sollte, benutzen wir bourgeoisen Kleinbürger bis dahin unterschiedliche Anwendungen für unterschiedliche Aufgaben.