Schon seit vielen Jahren beklagen zunehmend griesgrämige Männer das Ende des freien Internets und beschwören seine Wiedergeburt aus der Asche kommerzieller Plattformen (wie im programmatischen Essay Protocols, not Platforms); Cory Doctorow zeichnet sich bei diesem Thema durch besondere Beharrlichkeit (und eine gewisse Selbstironie bei der Wahl seines Mediums) aus. Diese faszinierende Subkultur hat während der monatelangen Übernahme von Twitter erheblich an Zulauf gewonnen, und nach dem Abschluss der Transaktion (the bird is freed
) lässt der neue Besitzer keine Gelegenheit aus, ihre Kassandra-Rufe umgehend zu bestätigen, wobei seine absolute Macht über die Plattform von finanziellen Zwängen begrenzt wird. Auch sind die Ideen, Zugpferde für ihre Rolle zahlen zu lassen (und mit ihnen öffentlich zu feilschen), die Belegschaft zur Steigerung ihrer Motivation in Angst und Schrecken zu versetzen oder Werbekunden zu bedrohen, vielleicht nicht ganz zu Ende gedacht (selbst wenn findige Geschäftsleute die darin enthaltene business opportunity schnell erkannt haben).
Wohlwollende Nutzerinnen begrüßen Mr. Musk dennoch sehr herzlich (Welcome to Hell, Elon
), wünschen ihm Erfolg oder planen jedenfalls keinen Wechsel auf andere Plattformen (Why would I leave Twitter? It's like living in NY and not taking the subway. Sure it's dirty and smells bad, but it's how you get places.
), während rechte Trolle die Hölle schon mal anheizen.
Viele andere Menschen suchen nach einer Mikroblogging-Alternative und erinnern sich ihrer seit Jahren verwaisten Mastodon-Accounts oder registrieren sich (in Massen) auf einer der größeren Instanzen. Sie genießen oder bestaunen die ungewohnte Atmosphäre (What I really enjoy about this space is how there are so few crypto bros.
) und das abweichende, gesündere, überlegene feature set (Bookmarks!). Die unterbezahlten Admins der großen Instanzen ringen mit dem Ansturm und werfen zusätzliche Hardware in die Flut. Während Hugh Rundle den aktuellen eternal september als Invasion
in eine sensible Subkultur empfindet, lehnt Kathrin Passig solche Metaphern – Ansturm, Flut, Invasion – ab. Bei aller Sympathie für eine reflektierte Sprachverwendung – stark erhöhtes Interesse
und rasch wachsende Nutzerzahlen
werden der Atmosphäre auf vielen Instanzen nicht gerecht.
Es wird sich zeigen, ob Mastodon Twitter als place to be ablösen wird (unwahrscheinlich), oder ob es sich mit einer breiten Nutzerinnenbasis (> 100M) als antivirales Gegenmodell zum zentralisierten Mikroblogging etablieren kann (hoffentlich).
Das alles könnte mir – auf einer praktischen Ebene – relativ egal sein, denn ich nutze Twitter im Wesentlichen als einen (zusätzlichen) Feedreader, in dem neben verschiedenen Medien auch unterhaltsame Einzelpersonen publizieren. Shitstorms nehme ich nur in Ausnahmefällen wahr, weil ich sehr selten Reaktionen auf Tweets beachte, spektakuläre Eilmeldungen verifiziere ich auf zusätzlichen Kanälen, und Tweetbot liefert eine chronologische Timeline ohne Werbung und Trolle. Die aktive Nutzung eines Microblogging-Dienstes verträgt sich – selbst mit einem großzügigen Limit von 500 Zeichen – nicht gut mit meiner Weitschweifigkeit und mangelnden Spontaneität. Selbst der in der Evolutionsbiologie ausgemusterte Name der Plattform (Mastodon as a genus name is obsolete; the valid name is Mammut
) ist klanglich eine Zumutung und mit seiner ungalanten Anspielung auf die weibliche Physiognomie völlig aus der Zeit gefallen.
Andererseits. Die Verlockung, als Betreiberin eines (Knotens innerhalb eines) freien sozialen Netzwerks (innerhalb des Fediverse) aufzutreten, ist sehr groß, und mein Server klagt schon länger, dass er sich mit Nginx, Postfix und Dovecot unterfordert fühlt. Schon die erste Verheißung für angehende Mastodon-Admins klingt vielversprechend –
Absolute control over your own voice on the web, not subject to anyone else's rules or whims. Your server is your property, with your rules. It will exist as long as you want it to exist.
– die zweite richtet sich eher an Menschen mit ausgeprägteren sozialen Bedürfnissen als ich –
You are not isolated on your own server. You can follow anyone on any other server, and they can follow you and you can exchange messages just like if you were on the same server.
– während die dritte einen Betrieb ohne potentiell ungehobelte fremde Nutzerinnen in Aussicht stellt:
You can either limit sign-ups to be the only one on the server and run it like personal (micro)blog, maintain an invite-only community for family or friends or run a server anyone can sign up on, it's up to you!
Ich beschließe daher, das social media equivalent of Desktop Linux
passend zum YoLD als persönliches Mikroblog aufzusetzen, schließlich möchte ich nicht in dieselbe Falle tappen wie Mr. Musk (Please mind that providing a public internet service involves moderation work and community management, and that such work becomes more complicated the larger your server grows.
), Geld in zusätzliche Server/Kerne oder Zeit in die optimale Konfiguration von Sidekiq investieren.
Die fürsorgliche Mastodon-Dokumentation beginnt mit Sicherheitshinweisen und führt sehr geschmeidig durch die Installation von Ruby (on Rails), Node.js, PostgreSQL, einer Reihe von Hilfspaketen und schließlich der Mastodon-Software. Man sollte allerdings nicht von den empfohlenen, etwas veralteten Versionen (Node.js 16, Ruby 3.0.3) abweichen, wenn man nicht Komplikationen zu einem sehr späten Zeitpunkt riskieren möchte.
Zur neuen Subdomain lasse ich mir ein passendes SSL-Zertifikat ausstellen (certbot certonly --nginx -d social.eden.one
) und vermenge die bestehende Nginx-Konfiguration mit der bereitgestellten Datei. Nginx stolpert zunächst über unterschiedliche ssl_session_cache
-Werte für meine Website und die Mastodon-Instanz, aber der Konflikt lässt sich lösen, indem der Session-Cache im übergeordneten http
-Kontext festgelegt wird. Eine weitere Verzögerung ergibt sich durch den Unterschied zwischen SMTPS auf Port 465 und SMTP auf Port 587 mit STARTTLS bzw. den Parameter SMTP_SSL=true
in der Konfigurationsdatei .env.production
:
Oct 29 19:00:30 eden bundle[838075]: 2022-10-29T19:00:30.636Z pid=838075 tid=isfb WARN: OpenSSL::SSL::SSLError: SSL_connect returned=1 errno=0 state=error: wrong version number
Nach der Behebung dieses Problems und dem Start der Mastodon-Services ist die Instanz offiziell eröffnet. Mastodon übt in /var/log/syslog
leise Kritik an meiner Redis-Konfiguration –
Oct 30 16:48:36 eden bundle[867373]: WARNING: Your Redis instance will evict Sidekiq data under heavy load. Oct 30 16:48:36 eden bundle[867373]: The 'noeviction' maxmemory policy is recommended (current policy: 'volatile-ttl'). Oct 30 16:48:36 eden bundle[867373]: See: https://github.com/mperham/sidekiq/wiki/Using-Redis#memory
– aber heavy load
ist eher nicht zu erwarten: Mit Mastodon nutze ich etwa 8% des verfügbaren RAMs (statt 1%), die CPU-Last liegt unverändert bei knapp 1,5%. Angesichts der reibungslosen Installation blicke ich dem bevorstehenden Upgrade auf Mastodon v4.0 entspannt entgegen.
Als erste Amtshandlung schließe ich die Tore ein wenig (Preferences → Administration → Site settings → Approval required for sign up), aktiviere die 2-Faktor-Authentifizierung für alle Accounts (2) und übernehme die Nutzungsbedingungen von legal.social. Für einen Pedanten wie mich ist es sehr befriedigend, die bestehenden Accounts von mastodon.social und social.tchncs.de umleiten zu können. Die link verification zwischen meinem Mastodon-Profil und meiner Website mit Hilfe des Attributs rel="me"
funktioniert nicht, weil Mastodon und Website auf demselben VPS laufen, und aus demselben Grund stützt sich social.eden.one auf die viel bessere implizite Domain-Verifikation:
Because Mastodon can be self-hosted, there is no better way to verify your identity than to host Mastodon on your own domain, which people already trust.
Außerdem installiere ich den begehrten blauen Haken als zusätzliches Emoji (Preferences → Administration → Custom emojis → :verified:
→ Copy) und benenne mich kostenlos in Jan Eden :verified:
um. Mein innerer Fünfzehnjähriger kichert zufrieden über diesen Regelbruch (And whatever you do, don’t use the
).verified
emoji
Der Fedifinder findet in meinem Twitter-Account insgesamt 8 Gefolgte mit Hinweisen auf Mastodon-Accounts, die ich als CSV-Datei importieren kann, und auch sonst mangelt es nicht an freundlicher Unterstützung beim Einstieg in den Mastodon-Teil des Fediverse. Bei der Auswahl der gefolgten Accounts geht einem kein Algorithmus zur Hand, die Stimmung ist familiärer und vereinzelte Crosspostings stören kaum. Falls Mr. Musk Twitter tatsächlich zu Grunde richtet, habe ich einen bequemen Logenplatz, denn Twitter-bezogene Toots machen einen erheblichen Teil meiner Timeline aus (so wie auch mein Feedreader derzeit voller Twitter-Reflexionen ist).
Vor lauter Aufregung vermassele ich die feierliche Einweihung mit einem #Introduction
-Toot und antworte stattdessen auf einen Toot. So viel zu den Vorzügen der Spontaneität.