9 Einzelne Sozialdemokraten

Bernstein, Eduard (1850–1932)
war der Sohn eines jüdischen Eisenbahners. Er absolvierte eine Bankkauflehre und trat 1872 in die SPD ein. Nach einer aktiven Teilnahme am Vereinigungsparteitag in Gotha mußte er für längere Zeit ins Exil gehen. Von der Schweiz und von England aus publizierte er gemeinsam mit Karl Kautsky und stand in engem Kontakt mit Friedrich Engels und den englischen Sozialisten (Fabian-Society). Ihre unideologische Sichtweise prägte ihn stark. Zurück in Deutschland, eroberte er ein Reichstagsmandat, das er mit kurzen Unterbrechungen bis 1928 behielt. Kurz nach Kriegsausbruch formulierte er 1915 eine Denkschrift gegen den Kriegsnationalismus und trat aus Protest gegen die kriegsbejahende Haltung der Mehrheits-SPD der USPD (bis 1920) bei.
Brandt, Willy (1913–1990)
war der Sohn einer alleinstehenden Verkäuferin aus dem sozialdemokratischen Milieu. Er wurde als Herbert Frahm von seiner Mutter und seinem Großvater, einem LKW-Fahrer und Sozialdemokraten, erzogen und wuchs in einer sozialdemokratischen Jugenkultur auf. Als begabter Schüler erhielt er ein Stipendium für ein bürgerliches Gymnasium in seiner Heimatstadt. Gegen Ende der Weimarer Republik schloß er sich einer linkssozialistischen Splitterpartei an, war 1933 kurz im Widerstand und floh dann nach Dänemakr, wo er der Exilorganisation seiner Partei angehörte. 1937 kämpfte er im spanischen Bürgerkrieg, 1938 wurde er vom dem Deutschen Reich ausgebürgert und nahm die norwegische Staatsbürgerschaft an. Seine Verhaftung durch die Wehrmacht überstand er unter einem Decknamen unbeschadet. In Stockholm organisierte er die „kleine“ Internationale mit, nach 1945 arbeitete er als norwegischer Korrespondent in Berlin. Schließlich entschied er sich für die Politik und wurde von Ernst Reuter, dem SPD-Bürgermeister von Westberlin gefördert. 1957 wurde er selbst Berliner Bürgermeister und erlangte während der Berlinkrise 1958 weltweite Aufmerksamkeit. 1960 machte ihn seine Partei zum Kanzlerkandidaten, 1966 wurde er in der großen Koalition Außenminister, 1969 schließlich Kanzler einer sozialliberalen Regierung. Von 1964 bis 1987 war er Parteivorsitzender, nach dem Ende seiner Regierungszeit übernahm er auch eine führende Rolle in der sozialistischen Internationalen, deren Vorsitzender er 1976 wurde. Er arbeitete an der Überwindung des Faschismus in Spanien und Portugal mit, ließ sich ins Europäische Parlament wählen und wurde 1990 Alterspräsident des Bundestages. 1991 brachte er den Antrag für die Bundeshauptstadt Berlin ein.
Ebert, Friedrich (1871–1925)
wurde in Heidelberg als siebtes Kind eines Schneiders geboren. Er absolvierte eine Sattlerlehre, scheiterte als selbständiger Sattler und eröffnete eine Gastwirtschaft in Bremen. Dort entdekcte er sein publizistisches Talent und wurde Redakteur einer SPD-Parteizeitung. Seit 1900 war er besoldeter Arbeitersekretär, später auch Mitglied der Bremer Bürgerschaft. Durch sein Oragnisationstalent empfahl er sich der Parteiführung und wurde 1905 zum Sekretär des Parteivorstands in Berlin berufen. Der Mitgliederzuwachs der SPD in den folgenden Jahren war auch seiner erfolreichen Parteiarbeit zu verdanken. Ab 1912 war er Mitglied des Reichstages und rückte 1913 nach August Bebels in den Parteivorstand auf. Während des Krieges suchte er als einer der führenden Sozialdemokraten nach einer Friedenslösung und organisierte den Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918. Am 9. November 1918 erhielt er den Auftrag zur Regierungsbildung, den einen Tag später an den „Rat der Volksbeauftragten“ übergab. Ebert forderte die Einsetzung einer Nationalversammlung, weil der die Räterepublik für unrealistisch hielt, und setzte sich durch. Die Nationalversammlung in Weimar wählte ihn am 11. Februar 1919 zum Reichspräsidenten und damit zum Nachfolger des Kaiser Wilhelm II. Die rechte Presse attackierte den Sattlergesellen im höchsten Staatsamt massiv (Dolchstoßlegende) und erreichte 1924 eine Verurteilung Eberts wegen seiner Beteiligung am Streik von 1918. Angesichts dieser Anwürfe resignierte Ebert und starb im Februar 1925 an einer zu spät erkannten Blinddarmentzündung. Er wurde in Heidelberg beerdigt. Aus seiner Ehe mit der Arbeiterin Luise Rump stammten fünf Kinder. Zwei der Söhne starben im Ersten Weltkrieg, die beiden anderen wurden ebenfalls Politiker: Der eine nach 1945 Oberbürgermeister von Ost-Berlin, der andere Landtagsabgeordneter in Stuttgart.
Görlinger, Robert (1888–1954)
stammte aus einer Arbeiterfamilie im Saarland. Ab 1905 hatte er verschiedene Jobs in Köln, wurde Metallarbeiter und trat 1909 in die SPD ein, parallel zu seinem Austritt aus der katholischen Kirche. Im Krieg wurde er mehrfach verwundet, während seiner Zeit im Lazarett in München bemühte er sich in der Universitätsbibliothek um Fortbildung. In Berlin war er Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates bis er nach Köln zurückkehrte, wo man ihn 1919 in den Stadtrat wählte. 1925 übernahm er den SPD-Fraktionsvorsitz, 1929 war er erfolgloser Gegenkandidat von Konrad Adenauer für das Amt des Oberbürgermeisters. Seit 1923 organisierte er auf kommunaler Ebene die Arbeiterwohlfahrt und ließ sich in das Kuratorium der Universität wählen, ohne selbst über höhere Schulbildung zu verfügen. 1933 emigrierte er nach Frankreich, wurde 1939 vom Deutschen Reich ausgebürgert, nach Kriegsbeginn in Frankreich interniert. Dort fiel er der Wehrmacht in die Hände, wurde verurteilt und später in das KZ Sachsenhausen deportiert. Nach dem Krieg übernahm er wieder den Fraktionsvorsitz im Kölner Rat, später auch Mandate im Landtag und Bundestag. Am 15. November 1948 wurde er in einem Losverfahren (im Rat herrschte Stimmengleichheit) zum ersten SPD-Bürgermeister in Köln. Besonders kulturpolitisch war er interessiert: Er initiierte die photokina und holte den Nachlaß des Photographen August Sander nach Köln.
Gohlke, Marie (1879–1956)
und Elisabeth (1888–1930) aus Landsberg an der Warthe wuchsen als Töchter eines armen Handwerkers auf. Marie erarbeitete sich das Geld für eine Lehre als Schneiderin und Weißnäherin und heiratete früh (als Marie Juchatz hatte sie zwei Kinder). Ihre Schwester Elisabeth hatte aus der Ehe mit Herrn Röhl ein Kind. Die ältere Schwester las im Elternhaus regelmäßig aus der SPD-Zeitung Volksstimme vor, 1906 zog sie mit ihrer Schwester und den drei Kindern nach Berlin, wo sie sich bei der SPD zur Mitarbeit meldeten. 1908 sprang Marie für eine erkrankte Rednerin ein und bwährte sich auf mehreren Redetourneen. 1912 war sie mit ihrer Agitationsrede „Die Teuerung, der Krieg und die Frauen“ in Köln, 1913 übernahm sie dort das Amt der 1. Sekretärin für Frauenarbeit. Während des Krieges war sie die einzige Sozialdemokratin im bürgerlichen Dachverband der Frauenvereine Deutschlands. 1917 übernahm sie das Frauensekretariat im SPD-Bundesvorstand, 1919 erhielt sie einen Sitz in der Nationalversammlung und hielt dort als erste Frau eine Rede. Ende 1919 war sie Mitgründerin der SPD-nahen Arbeiterwohlfahrt. Später emigrierte sie in die USA, wo sie die Unterstützung der deutschen Arbeiterschaft organisierte. 1949 kehrte sie zurück, 1955 erschienen ihre Memoiren kurz vor ihrem Tod in Deutschland. Ihre Schwester Elisabeth wurde ebenfalls in die Nationalversammlung gewählt, später saß sie im Kölner Stadtrat, im Kölner Bezirksvorstand und im Preußischen Landtag. Sie heiratete in zweiter Ehe den SPD-Funktionär Kirschmann und arbeitete bei der Rheinischen Zeitung. Sie starb bereits 1930.
Heinemann, Gustav (1899–1976)
war eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der SPD. Sein Vater hatte sich aus eher bescheidenen Verhältnissen zum Arbeitsdirektor der Kruppwerke hochgearbeitet. Heinemann wuchs deshalb in der großbürgerlichen Gesellschaft Essens auf. 1917 meldete er sich, mit gerade 18 Jahren, als Kriegsfreiwilliger, nach dem Krieg studierte er Jura in Marburg und München. Dort engagierte er sich in einer Studentengruppe der DDP und war aktiv im Kampf gegen den Kapp-Putsch. Ab 1925 folgte eine rasante Industriekarriere bei den Rheinischen Stahlwerken. Durch seine Frau Hilda, eine Theologin, fand Heinemann Kontakt zur Evangelischen Kirche und engagierte sich auch während des Dritten Reiches als Protestant. Außerdem lehrte von 1933 bis 1939 als Professor Wirtschaftsrecht an der Kölner Universität. 1945 war er Mitbegründer der CDU in Essen, er wurde zum ersten Oberbürgermeister von Essen gewählt, unterzeichnete die „Stuttgarter Schulderklärung“ der deutschen Protestanten, war Mitglied im Rat der evangelischen Kirche und 1948 Präses. 1949 initiierte er die evangelischen Kirchentage und wurde Innenminister im ersten Kabinett Adenauer, bis er aus Protest gegen die Wiederbewaffnung zurücktrat. Seine neue Partei, die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), scheiterte an der neuen Fünfprozenthürde bei Bundestagswahlen. 1957 trat er mit einigen politischen Freunden in die SPD ein, erhielt ein Bundestagsmandat und wurde in den Parteivorstand gewählt. 1966 übernahm er das Justizministerium in der großen Koalition und setzte grundlegende Justizreformen durch. 1969 wählte ihn die Bundesversammlung zum Bundespräsidenten. Als Bundespräsident schärfte Heinemann vor allem das Geschichtsbewußtsein der Deutschen, indem er z.B. auch auf den kommunistischen Widerstand gegen Hitler hinwies und der Revolution von 1848 gedachte. Außenpolitische Zeichen setzte er durch ausgedehnte Reisetätigkeit in die Nachbarländer Deutschlands. Mit seiner Frau hatte er drei Töchter und einen Sohn.
Mierendorf, Carlo (1898–1943)
wuchs in Darmstadt in einem großbürgerlichen Elternhaus auf, besuchte das Gymnasium und gab als literarisch Interessierter eine Zeitschrift heraus. 1916 wurde er als Kriegsfreiwilliger verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz. Nach dem Krieg studierte er Volkswirtschaft und Philosophie, 1920 trat er in die SPD ein und wurde Herausgeber des Hessischen Volksfreundes. Seit 1930 gehörte er als Reichstagsmitglied den sogenannten „kämpferischen Sozialdemokraten“ an. Im Juni 1933 verschleppten ihn die Nationalsozialisten in ein KZ, aus dem er 1938 entlassen wurde. Er war aktiv im Kreisauer Kreis mit Gördeler und richtete im Juni 1943 einen Aufruf an das deutsche Volk zur sozialistischen Aktion. Kurz darauf wurde er bei einem Bombenagriff auf Leipzig getötet. Als Bürgersohn und Dichter stellte er einen neuen, nicht mehr an die Arbeiterherkunft gebundenen Typus des Sozialdemokraten dar.
Schumacher, Kurt (1895–1952)
wurde in Kulm (Westpreußen) geboren. Seine Heimatstadt war von Polen, Juden und Deutschen bewohnt. Er besuchte in Lübeck das Gymnasium, meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger und wurde schwer verwundet (Verlust des rechten Armes). Sein Studium in Münster beendete er als Doktor der politischen Wissenschaften. In seiner Dissertation zum Thema „Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie“ zog er von Lassalle ausgehend eine argumentative Linie über das Verhältnis von SPD und Staat. Seit 1918 war Schumacher SPD-Mitglied. Er begann seine politische Karriere als Redakteur der Schwäbischen Tagwacht, rückte 1924 in den württembergischen Landtag ein, organisierte das demokratische Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und erhielt 1930 ein Reichstagsmandat. Sein rhetorischer Kampf gegen den NS-Propagandisten Joseph Goebbels brachte ihn schon 1933 ins KZ Dachau. Nach seiner Entlassung 1943 wurde er 1944 erneut verhaftet, erlebte das Kriegsende aber in Freiheit in Hannover. Noch im Mai wurde er aktiv für die neue Sozialdemokratie. Vom 4. bis 6. Oktober 1945 organisierte er eine „Reichskonferenz“ in Hannover-Wennigsen mit Otto Grotewohl. Das Ergebnis brachte eine Abgrenzung von westlichen und östlichen Sozialdemokraten, so daß Schumacher und der Berliner Zentralausschuß den Zonengrenzen entsprechend parallel arbeiteten. Der Londoner Exilvorstand integrierte sich rasch in das Schumachers Hannoveraner Büro, Schumacher wurde zunächst zum Sprecher der westzonalen SPD und im Mai 1946 einstimmig zum ersten (Nachkriegs-) Vorsitzenden der SPD gewählt (zum Vergleich: Konrad Adenauer agierte mehrere Jahre nur als einer von mehreren CDU-Landesfürsten). Zwischen März 1948 und April 1949 mußte er sich wegen einer Erkrankung aus der aktiven Politik zurückziehen; in dieser Zeit wurde ihm das linke Bein amputiert. Noch im Frühjahr 1949 stieg er aber in die Debatten um das Grundgesetz ein und formulierte das Veto der SPD gegen mehrere Artikel der Vorlage. Als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten verlor er 1949 gegen den FDP-Politiker Theodor Heuss, 1950 wurde er erneut einstimmig zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Sein plötzlicher Tod am 20. August 1952 führte zu der größten politischen Demonstration der 50er Jahre, fast 100.000 Menschen säumten die Straßen, als sein Leichnam nach Hannover überführt wurde. Ein englischer Journalist charakterisierte Schumacher als Sinnbild der deutschen Tragödie im 20. Jahrhundert. Im ersten Weltkrieg schwer verwundet und von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager mißhandelt, konnte er dennoch kraftvoll und packend für eine bessere Welt sprechen. Die Menschen, die ihm das Geleit gaben, spürten, daß mit ihm einer der wenigen Aufrechten gestorben war.
Wehner, Herbert (1906–1990)
wurde in Dresden als Sohn eines sozialdemokratischen Schuhmachers geboren. Er erhielt eine Begabtenförderung, erlebte die Spaltung der Arbeiterbewegung nach dem Weltkrieg und schloß sich der Sozialistischen Arbeiterjugend an. Nach dem Einmarsch der Reichswehr in Sachsen wegen der dort regierenden SPD-KPD-Regierung trat Wehner in die KPD ein und erhielt 1930 ein Mandat im sächsischen Landtag. 1931 wurde er als Assistent des Vorsitzenden Ernst Thälmann nach Berlin berufen und bereitete dort den Widerstand gegen Hitler vor. Seit 1934 steckbrieflich gesucht, floh er 1935 ins Ausland. Über mehrere Stationen gelangte er nach Moskau, wo er die stalinistischen Säuberungen unter deutschen und sowjetischen Kommunisten überlebte und sich 1941 aus der dortigen Atmosphäre von Verrat und Bedrohung nach Schweden rettete. Dort verhafetete ihn die schwedische Polizei als illegalen Einwanderer. In der Haft kehrte er sich vom Kommunismus ab und reiste 1946 nach Hamburg. Von dort aus bewarb er sich im Büro Schumacher als Mitarbeiter. Seit 1949 Bundestagsabgeordneter (und in der Partei verantwortlich für die Deutschlandpläne), wurde er 1952 in den SPD-Vorstand gewählt. Seit 1958 konnte er als stellvertretender Vorsitzender seine politische Linie durchsetzen. Er akzeptierte die deutsche Teilung als Realität und legte mit der politischen Wahrnehmung der DDR den Grundstein für die spätere Ostpolitik Willy Brandts. Von 1965 bis 1983 war Wehner Fraktionsvorsitzender, trotz seiner häufigen Zwischenrufe und seines eher mittelmäßigen Redetalents galt er als großer Parlamentarier. Seine Person demonstrierte den Weg zurück von der KPD zur Sozialdemokratie, obwohl ihn die bürgerlichen Parteien wegen seiner kommunistischen Vergangenheit oft hart angriffen.