The Great Cornflakes Conspiracy

In der Lebensmittelindustrie wird mit harten Bandagen gekämpft. Um die sensible Balance aus Herstellungskosten, Massengeschmack und Marge zu halten, beschäftigen Nestlé, Unilever und Kraft nicht nur Heerscharen von Lebensmittelchemikern und Ernährungswissenschaftlern, sondern auch findige Packungspoeten.

Im Sommer 2009 kaufte ich in Italien eine Packung Kellogg's Cornflakes, die mit Coca-Cola und einem Big Mac eine Gemeinsamkeit haben: Sie schmecken weltweit identisch.

Umso erstaunlicher, dass die italienischen Flakes laut Packungsangaben angeblich zu 99% aus Mais bestehen. Und die italienischen Rice Krispies ebenfalls. Lassen sich die Berlusconi-gestählten Italiener mittlerweile auch die unglaubwürdigsten Geschichten erzählen? Setzt Kellogg's Italia S.p.a. in Italien einen besonders süßen Mais ein, der den teuren Zucker überflüssig macht? Zumal die auch in Italien erhältlichen Crownfield-Cornflakes laut Packungsangaben nur 90% Mais enthalten (und der Zuckeranteil nahezu identisch ist). Noch mysteriöser: Selbst für die ungesüßten Alnatura-Cornflakes (1,1% Zuckeranteil) werden nur 98,5% Mais verwendet.

In Deutschland fragte ich beim DE-VAU-GE-Gesundkostwerk nach, das seine zuckerarmen Belight Cornflakes mit 40% weniger Zucker und 94% Mais bewirbt. Dort hatte man auch keine plausible Erklärung für die Behauptung der Konkurrenz:

Nach unserem jetzigen Kenntnisstand wird auf der Faltschachtel von Kellogg's sowohl in Deutschland als auch in Italien der Maisanteil ohne Prozentangabe deklariert. Wir kennzeichnen zurzeit einen Maisgehalt von 94%. Laut unserer Erfahrung sind die Zutatenlisten der verschiedenen Cornflakes-Anbieter jedoch sehr ähnlich, dies läßt sich auch aufgrund der Nährwertangaben ableiten. Von daher wird der Maisanteil bei den Cornflakes von Kellogg's nicht gravierend von unserem Produkt abweichen.

Die kleinen Differenzen bei den Zucker-und Natriumwerten zwischen unserem Belight Cornflakes-Produkt und dem Produkt von Kellogg's sehen wir darin begründet, dass wir vermutlich einen geringeren Anteil an Zucker und Salz zufügen.

Eine weitere Frage von Ihnen bezieht sich auf die Süße der Maissorten. Da Mais in verschiedenen Ländern und Regionen erfolgreich angebaut wird, ist mit Variationen in der Süße aufgrund der klimatischen Unterschiede zu rechnen. Dies war bis jetzt aber noch nicht Gegenstand unserer Forschung.

Wie wir wissen, hat Kellogg's in der Vergangenheit den hochwertigen LaPlata-Mais aus Südamerika eingesetzt. Wir haben jedoch keine Kenntnis darüber, welche Maissorte Kellogg's derzeit verwendet. Wir können ihnen jedoch bestätigen, dass wir auch heute noch die südamerikanische Sorte verarbeiten.

Im Klartext: DE-VAU-GE kann sich auch nicht vorstellen, dass Kellogg's 99% Mais in seinen Cornflakes unterbringt. Aber was sagt Kellogg's in Deutschland dazu?

Ihre Frage ist nicht leicht zu beantworten. Aber wir wollen gerne versuchen den Sachverhalt zu erläutern. Die Kellogg's Cornflakes haben mit 8% Zucker im Vergleich zu den Belight-Cornflakes mit 6% einen leicht höheren Zuckergehalt und dürften damit auch den süßeren Geschmackseindruck begründen. Diese Angaben beziehen sich auf das Endprodukt und sind aus der Nährwerttabelle zu ersehen.

Die prozentualen Angaben zum Getreideanteil jedoch ergeben sich aus der Berechnung der mengenmäßigen Anteile von Zutaten, entsprechend der so genannten QUID Verordnung, die nicht in derselben Weise miteinander vergleichbar sind.

Die Berechnung erfolgt folgendermaßen: Die Menge der Zutaten oder der Gattung von Zutaten wird von Gesetzes wegen in Gewichtsprozent, bezogen auf den Zeitpunkt ihrer Verwendung bei der Herstellung des Lebensmittels, angegeben. Entscheidend ist dabei nicht, wie viel der Zutat bzw. des Getreides in 100g verzehrsfertigem Endprodukt enthalten ist, sondern während der Herstellung. Und hier kommt während der Herstellung Wasser hinzu. Im Anschluss verliert zwar das Produkt durch eine Hitzebehandlung wieder Feuchtigkeit. Aber so kommt es, dass die Zutat einschließlich ihres Feuchtigkeitsgehaltes (in der Herstellung) anteilmäßig am Enderzeugnis berechnet wird und die Angabe der Gesamtmenge die 100% übersteigt. Die zugegebene Wassermenge zum Zeitpunkt der Herstellung wird dann in der Zutatenliste nicht mehr berücksichtigt, weil sie ja während der Hitzeeinwirkung verloren gegangen ist.

Etwas konfus ausgedrückt. Gemeint ist wohl, dass der saftige Mais nicht seinen gesamten Feuchtigkeitsanteil in die trockenen Cornflakes einbringt. Aber was sagt uns das? Orientiert sich Kellogg's an der QUID-Verordnung, das DE-VAU-GE-Gesundkostwerk aber nicht? Gehen wir systematisch vor: Die Mengenkennzeichnung von Zutaten (Quantitative Ingredient Declaration – QUID) ist mit den Direktiven 79/112/EEC bzw. 97/4/EC EU-weit einheitlich geregelt. In Deutschland bildet sie §8 der Verordnung über die Kennzeichnung von Lebensmitteln (LMKV). Im relevanten Absatz 4 heißt es dort:

Die Menge der Zutaten oder der Gattung von Zutaten ist in Gewichtshundertteilen, bezogen auf den Zeitpunkt ihrer Verwendung bei der Herstellung des Lebensmittels, anzugeben. Die Angabe hat in der Verkehrsbezeichnung, in ihrer unmittelbaren Nähe oder im Verzeichnis der Zutaten bei der Angabe der betroffenen Zutat oder Gattung von Zutaten zu erfolgen. Abweichend von Satz 1 ist die Menge der bei der Herstellung des Lebensmittels verwendeten Zutat oder Zutaten bei Lebensmitteln, denen infolge einer Hitze- oder einer sonstigen Behandlung Feuchtigkeit entzogen wurde, nach ihrem Anteil bei der Verwendung, bezogen auf das Enderzeugnis anzugeben; übersteigt hiernach die Menge einer Zutat oder die in der Etikettierung anzugebende Gesamtmenge aller Zutaten 100 Gewichtshundertteile, so erfolgt die Angabe in Gewicht der für die Herstellung von 100 Gramm des Enderzeugnisses verwendeten Zutat oder Zutaten.

Etwas eleganter drücken das die Schweizer Bundesjuristen des Departement des Innern in Artikel 10 Absatz 1 bzw. Absatz 2 der Verordnung des EDI über die Kennzeichnung und Anpreisung von Lebensmitteln (LKV) aus:

Die Menge der Zutaten ist in Massenprozenten anzugeben. Massgebend ist der Zeitpunkt der Verarbeitung. Abweichend von Absatz 1 gilt: Bei Lebensmitteln, denen durch Hitzebehandlung oder in anderer Weise Wasser entzogen wurde, ist die Menge der verarbeiteten Zutaten in Massenprozent, bezogen auf das Endprodukt, anzugeben. Übersteigt die Menge einer solchen Zutat oder die in der Kennzeichnung anzugebende Gesamtmenge aller Zutaten 100 Massenprozent, so ist stattdessen das Gewicht der für die Herstellung von 100 g des Endproduktes verwendeten Zutaten anzugeben.

Offensichtlich gibt das DE-VAU-GE-Gesundkostwerk fälschlicherweise den Anteil des verarbeiteten (also getrockneten) Maises an, während Kellogg's Italia die Maismasse zum Zeitpunkt der Verarbeitung auf die Masse der fertigen Cornflakes bezieht.

Das Phänomen ist übrigens nicht auf Italien beschränkt. Während Kellogg's Italia S.p.a. die 99-prozentige Deklaration verschämt im kleingedruckten Zutatenverzeichnis versteckt, ist Nestlé Deutschland weniger schamhaft: Die lange Zeit nur im Vereinigten Königreich erhältlichen Shreddies werden lauthals mit 95% Vollkornanteil beworben, obwohl das Zeug ziemlich süß schmeckt und die Nährwerttabelle einen Zuckeranteil von immerhin 15,5% ausweist.

Interessanterweise wirbt der Klassiker Weetabix seit Jahrzehnten mit demselben Vollkornanteil, enthält aber nur 4,4% Zucker. Kellogg's Deutschland wiederum zeichnet für seine Special K-Flocken einen Getreideanteil von 76% (Reis/Weizen) aus – bei einem Zuckergehalt von 17%. Offenbar sind sich auch die Produzenten nicht immer ganz sicher, welche Klausel aus §8, Absatz 4, LMKV auf ihre Produkte anzuwenden ist. Das zuständige Bundesministerium für Verbraucherschutz, das auf seiner Website stolz einen Verordnungsvorschlags zur Überarbeitung des gemeinschaftlichen Kennzeichnungsrechts präsentiert, hält das allerdings nicht für problematisch und reagiert auf meine Nachfrage mit einer langatmigen Paraphrase der LMKV.

Man könnte fast den Eindruck haben, die QUID-Richtlinie begünstige eine uneinheitliche Kennzeichnung und eine kontraintuitive Verwendung von Prozentangaben, wovon vor allem die Produzenten und nicht die Verbraucherinnen und Verbrauchen profitieren. Aber das würde ja bedeuten, dass große Nahrungsmittelproduzenten Einfluss auf die Gesetzgebung innerhalb der Europäischen Union nehmen. Vollkommen absurd.

Update (April 2011): Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Auf der Vorderseite der Shreddies-Packungen wurde eine unzweideutige Erläuterung des Vollkornanteils im Sinne der LMKV eingefügt und über einen Stern mit dem Vollkornanteil verknüpft:

Für 100g SHREDDIES wurden vor dem Backen 95g Vollkorngetreide eingesetzt.

Wenn sich die notorisch bescheidene Weetabix GmbH jetzt noch zu einem Hinweis auf 105g Vollkornweizen je 100g Weetabix durchringt, könnte man jungen Konsumentinnen die spezielle Relativitätstheorie der Lebensmittelbranche sehr schön illustrieren.

Kurz bevor ich Lobeshymnen auf die lernfähige und letztlich doch sehr menschenfreundliche Lebensmittelindustrie verfassen kann, setzt sich wenige Wochen später wieder die Falkenfraktion im Nestlé-Marketing durch. Der erklärende Hinweis wird zugunsten einer Prämienaktion (Mit Vollkorn-Punkten Prämien sichern) auf den Seitenteil der Packung verbannt, und die markige Prozentangabe am oberen Rand verliert ihren mahnenden Stern, aber auch den Wortbestandteil anteil. Dafür wird der obigen Erläuterung noch ein präzisierender Satz vorangestellt:

Die Angaben zum Vollkorngetreideanteil beziehen sich nach Lebensmittelkennzeichnungsverordnung auf die Einsatzmenge vor dem Backen.

Man könnte den Eindruck gewinnen, die Beschriftung von Cereal-Packungen werde auf ähnliche Weise ausgehandelt wie Koalitionsverträge auf Bundesebene. Wes Geistes Kind das Nestlé-Marketing nun wirklich ist, offenbart ein Blick über die Grenzen des Cereal-Marktes:

Besonders fiel den Warentestern das Kakaogetränke-Pulver Nesquik Zucker-reduziert des weltgrößten Lebensmittelkonzerns Nestlé auf. In dem Light-Produkt ersetzt das Kohlenhydratgemisch Maltodextrin Haushaltszucker. [...] Unter dem Strich biete Nesquik Zucker-reduziert laut Etikett 1 Prozent mehr Kalorien als die herkömmliche Variante. Nestlé erklärte, auf der Packung weise die Firma darauf hin, dass Maltodextrin in etwa den selben Energiegehalt wie Zucker habe.

Stay classy, Nestlé.

Update (Januar 2013): Und sie bewegt sich doch. Ein bisschen. Zwei verzuckerte Cereal-Produkte für Kinder verlassen den Markt, was aber die Gesamtsituation nicht wesentlich verändert. Kellogg's hält an Smacks (43% Zuckergehalt) fest, Nestlé kündigt eine Obergrenze von 30% für den Sanktnimmerleinstag an. Denn:

„Ernährungswissenschaftliche Begründungen für [die von Foodwatch geforderte gesetzliche Grenze von 10% Zuckergehalt in Kinderflocken] habe ich bislang nicht finden können“, erläuterte etwa Kellogg’s-Sprecher Markus Dreißigacker.