Weichenstellungen 1858 – 1862

Vom Zerfall des Mächtesystems profitierte auch Preussen, das aufgrund seiner Neutralität im Krimkrieg nicht zur Konferenz zugelassen war (an seiner Stelle nahm Sardinien als Verbündeter der Westmächte teil). Während die preussische Führung dies größtenteils als Zurücksetzung empfand, erkannte Bismarck den Vorteil der Ausgrenzung Preussens: Je weniger Preussen in europäische Vereinbarungen eingebunden war, desto größer wurde sein Spielraum in der Machtrivalität mit Österreich, das sich nach dem Misserfolg der Balkanpolitik wieder auf seine Rolle in Deutschland besann.

Bismarck hatte sich seit 1848 außenpolitisch zunehmend von seinen prinzipienpolitischen Wurzeln entfernt und sah – anders als der hochkonservative Kreis um die Brüder Gerlach – in Österreich statt in Frankreich den Hauptgegner. Vor allem gab er nun dem preussischen Staatsinteresse eindeutig Vorrang vor den bisher vertretenen adeligen Standesinteressen. Allerdings bezog sich auch sein außenpolitisches Fernziel – ein starkes Preussen in einem erneuerten Mächtesystem – letztlich auf die Wahrung der Sozialordnung und ruhte damit auf einer sozialkonservativen Haltung. Seit 1853 hatte Bismarck den Konflikt mit Österreich unter allen Konstellationen durchgespielt: Als defensive Variante betrachtete er eine Zweiteilung Deutschlands zwischen einem preussisch geführten Norden und einem österreichisch gelenkten Süden (wie er sie 1854 dem Ministerpräsidenten Manteuffel vorgeschlagen hatte), die offensive Lösung bestand in einer völligen Verdrängung Österreichs aus Deutschland. Noch 1857 hielt er Koalitionen auf europäischer Ebene für den Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage, in einer Denkschrift vom März 1858 dagegen plädierte er für die Zusammenarbeit mit den bislang pro-österreichischen Mittelstaaten. Als geeignetes Zwangsmittel nannte Bismarck eine Verbindung des deutschen Nationalismus mit der preussischen Außenpolitik: Preussen als rein deutscher Staat und Förderer des nationalen Wohls könne leicht die deutsche öffentliche Meinung für sich gewinnen. Deren Druck würde dann die übrigen deutschen Regierungen an Preussens Seite zwingen. Dabei betrachtete Bismarck die nationalen Ziele, die er in Frankfurt oft genug sabotiert und verspottet hatte, als Mittel zur Ausweitung der preussischen Macht.

Innenpolitisch war es in Preussen Anfang 1858 zu einem Umschwung gekommen, als Prinz Wilhelm die Regentschaft von seinem kranken Bruder Friedrich Wilhelm IV. († 1861) übernahm. Der neue Herrscher missbilligte die reaktionäre und restriktive Politik der Regierung Manteuffel und bildete ein liberal-konservatives Kabinett unter Fürst Anton von Hohenzollern-Sigmaringen mit dem Ziel, stärkeren Rückhalt im Volk zu gewinnen. Tatsächlich brachten die Wahlen zum Landtag 1859 einen überwältigenden Sieg für die Anhänger der „Neuen Ära“, während zuvor die Konservativen Anhänger Manteuffels in der Mehrheit gewesen waren. Der Prinzregent und sein neuer Außenminister Alexander von Schleinitz beschlossen unter allgemeinem Beifall (auch der Konservativen) eine Annäherung an Österreich und England, wobei die aggressive anti-österreichische Politik Bismarcks in Frankfurt natürlich störte. Im März 1859 wurde der Bundestagsgesandte deshalb nach St. Petersburg versetzt.

Allerdings änderte sich die Lage in der europäischen Politik rasch. Österreich hatte während des Krimkrieges versucht, die Konzertdiplomatie wiederzubeleben und damit seine Geltung als Großmacht zu sichern. Mit der widersprüchlichen Mischung aus machtorientierter Balkanpolitik und einem Beharren auf dem Status quo im übrigen Europa hatte es sich allerdings vollständig isoliert. In Paris war zudem wegen der Beteiligung Sardiniens auch die italienische Frage angeschnitten worden, und England hatte erklärt, die Initiative Napoleons III. zur Befreiung Italiens zu unterstützen. Der Anspruch Österreichs auf dauerhaften Verbleib in Oberitalien fand also keine Unterstützung. So konnte Napoleon III. im Juli 1858 mit Cavour, dem leitenden Minister des Königreichs Sardinien, eine Vereinbarung zur Vertreibung Österreichs aus Italien und zur nationalstaatlichen Neuorganisation Italiens treffen. Am 23. April 1859 begann nach einem österreichischen Ultimatum an Sardinien der italienische Krieg, der bereits nach drei Monaten mit dem Waffenstillstand von Villafranca endete. Österreich trat die Lombardei an Frankreich ab, welches sie im Frieden von Zürich (10. November 1859) an Sardinien übergab. Die italienische Frage wurde damit auf eine ähnliche Art wie später die deutsche gelöst: Verdrängung Österreichs und politische Zusammenfassung der verbleibenden Territorien unter der Hegemonie des stärksten Staates, der 1861 mit der Gründung des Königreichs Italien die nationale Einigung vollendete. Das österreichische Festhalten an seinen verbliebenen italienischen Besitzungen (Venetien) machte Italien in Bismarcks Augen zum natürlichen Bündnispartner Preussens in einer Auseinandersetzung mit Österreich. Allerdings war der Nutzen eines solchen Bündnisses begrenzt, denn die diplomatische und militärische Macht Italiens war gering, und seine geographische Lage schloss seinen Einsatz im diplomatischen Ringen um die Vorherrschaft in Mitteleuropa aus.

Die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Österreich einerseits und Sardinien und Frankreich andererseits betrachtete Bismarck natürlich als Chance zur Gebietserweiterung auf Kosten Österreichs, wobei eine dafür notwendige Verständigung mit Frankreich die – von ihm für nützlich erachtete – preussische Stellung bei der Nationalbewegung erschüttert hätte. Ganz im Sinne der über den Krieg gegen ein Bundesglied empörten Öffentlichkeit plädierte dagegen der preussische Generalstabschef Moltke für einen national gedeuteten Präventivkrieg gegen Frankreich, um den als bedrohlich betrachteten Aufstieg Frankreichs zu hemmen. Unter anderem die Furcht vor einem solchen preussischen Eingreifen bewog Napoleon auch zum raschen Friedensschluss, der sowohl Bismarcks als auch Moltkes Plänen die Grundlage entzog. Die Erkenntnis, dass der Deutsche Bund nicht zur gemeinsamen Verteidigung fähig war, bestärkte in Deutschland den Wunsch nach einem deutschen Staat. Dieser Wunsch führte im September 1859 zur Gründung des Nationalvereins, der auf Vermittlung Bismarcks der preussischen Regierung seine Unterstützung anbot, was Außenminister Schleinitz ablehnte. Trotz der Kritik im Kabinett an Schleinitz’ pro-österreichischer Politik behielt dieser die Unterstützung des Regenten, und sein potentieller Nachfolger Bismarck kehrte nach St. Petersburg zurück.

In Wien wurde nach der erneuten Niederlage in Südeuropa Graf Buol im Mai 1859 als Ministerpräsident und Außenminister durch Bismarcks früheren Kollegen in Frankfurt, den Grafen Rechberg, abgelöst. Rechberg bemühte sich nun, Österreichs Führungsrolle in Deutschland stärker wahrzunehmen und den Schwarzenberg-Plan doch noch zu verwirklichen. Als erster Schritt sollte mit dem Beitritt Österreichs der wirtschaftlich liberale Deutsche Zollverein in eine Wirtschaftsunion mit hohen Zollmauern nach außen umgewandelt werden, die die rückständige österreichische Wirtschaft schützte, entsprechend dem Bruck-Plan von 1850. Die süddeutschen Staaten begrüßten das stärkere Engagement Österreichs aus Angst vor einer französischen Aggression. Einem von Rechberg vorgeschlagenen Defensivbündnis der beiden deutschen Großmächte gegen Frankreich konnte Preussen deshalb politisch nichts entgegensetzen, weil ein Zusammengehen mit Frankreich die preussische Stellung im Deutschen Bund weiter verschlechtert hätte. Einen Ausweg bot die Wirtschaftspolitik: Preussen schlug Frankreich im Juni 1860 Verhandlungen über einen Handelsvertrag vor, was Österreich zum Angebot eines dualistischen Ausgleichs im Deutschen Bund (statt der in Olmütz beanspruchten österreichischen Führung) veranlasste. Daraufhin erhöhte auch Frankreich seine Angebote. Die Entscheidung für Frankreich, die mit dem Beginn der Vertragsverhandlungen im Januar 1861 fiel, war auch eine Entscheidung für eine eigenständige preussische Rolle in Europa, denn mit dem Handelsvertrag wurde Preussen an die westeuropäische Freihandelszone (England, Frankreich, Belgien und die Schweiz) angeschlossen.

Kurz darauf (4. Februar 1861) übernahm in Wien mit Anton von Schmerling ein liberal-großdeutsch eingestellter ehemaliger Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung das Amt des Ministerpräsidenten, während der konservative Rechberg weiterhin das Außenministerium leitete. Einige Monate später wurde in Berlin Graf Schleinitz abgelöst, nachdem seine Pläne für ein Bündnis mit England und Österreich gescheitert waren. Sein Nachfolger, Graf Albrecht von Bernstorff, trat wie Bismarck für eine starke preussische Initiative in der deutschen Frage ein und belebte die preussische Unionspolitik von 1849 wieder, indem er im Bundestag im Dezember 1861 einen kleindeutschen Bund innerhalb des bestehenden Bundes und ein von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten zu wählendes nationales Parlament forderte.

Trotz der nationalen Begeisterung für diesen Vorschlag hatte auch die österreichische Seite einige Trümpfe: 1861 hatte sich die „Neue Ära“ bereits als Illusion erwiesen, da die wichtigsten Minister, die Berater des Königs, die hochrangigen Beamten und die meisten Mitglieder des Herrenhauses antiliberal und reaktionär eingestellt waren und die geplanten Reformgesetze verhinderten. Ein großer Teil der liberalen Bewegung hatte sich von der Regierung abgewandt, die immer deutlicher reaktionäre Züge zeigte. Demgegenüber machte Habsburg Anstalten, seinem Reich eine konstitutionelle Regierung zu gewähren (Oktober-Diplom 1860, Februar-Patent 1862), was die Liberalen zunächst beeindruckte. Diese Situation wollten Schmerling und der einflussreiche Sekretär für deutsche Angelegenheiten, Ludwig von Biegeleben, zur großdeutschen Konsolidierung des Bundes nutzen. Sie drängten den widerstrebenden Rechberg zu einer Politik der Bundesreform. Der Schmerling-Plan sah vor, in die bestehende Struktur des Bundes eine Abgeordnetenkammer aus Abgeordneten der einzelnen Landtage (Bernstorffs Vorschlag übernehmend), ein Exekutivkomitee als Vertretung der Einzelregierungen und ein Oberstes Gericht mit der Gewalt, Bundesrecht zu sprechen, einzubauen. Diese Gremien sollten nicht durch Veränderung der Bundesverfassung geschaffen, sondern unter Umgehung eines möglichen preussischen Vetos zunächst als temporäre Organe eingeführt werden. Innerhalb dieses Systems wäre Preussen permanent überstimmt worden. Für den Fall, dass der absehbare Konflikt mit Preussen den Deutschen Bund sprengen sollte, wurde sogar ein engerer Bund zwischen Österreich und den daran interessierten deutschen Staaten in Aussicht genommen werden – die österreichische Variante der preussischen Unionspolitik von 1849/50. Es gelang der österreichischen Diplomatie, die Mittelstaaten zu überzeugen, und am 14. August 1862 wurde im Bundestag die Überweisung des österreichischen Vorschlags an die Ausschüsse beschlossen.

Bei seiner Werbung um die Mittelstaaten kam Rechberg der Abschluss des preussisch-französischen Handelsvertrages am 29. März 1862 sehr entgegen, denn der bilaterale Vertrag ohne Konsultation der Zollvereins-Partner ließ die süd- und mitteldeutschen Staaten sich noch stärker an Österreich anlehnen. Wirtschaftspolitisch war der Handelsvertrag dagegen für Österreich eine Katastrophe. Nach dem Debakel 1853 hatte Handelsminister Bruck gehofft, die österreichische Wirtschaft sei bis 1860 stark genug für einen Beitritt zum Zollverein. Doch selbst wenn dies erreicht worden wäre (tatsächlich vergrößerte sich der Abstand zwischen Österreich und dem Zollverein) konnte Österreich nicht auf einem europäischen Freimarkt bestehen. Trotz ihrer Verärgerung wollten die übrigen Zollvereinsmitglieder den wirtschaftlich attraktiven Verein nicht verlassen. Daher präsentierte Rechberg kurz vor Abstimmung über die Bundesreform erneut den Bruck-Plan von 1850 und bot weitreichende Zugeständnisse an, falls das Abkommen mit Frankreich nicht unterzeichnet würde. Dennoch unterzeichnete Bernstorff am 2. August 1862 den preussisch-französischen Handelsvertrag. Außenpolitisch formulierte er mit seinen gegen Österreich gerichteten Initiativen innerhalb und außerhalb des Deutschen Bundes bereits die Politik, die sein Nachfolger Bismarck so erfolgreich betreiben sollte.