Gotthold Ephraim Lessing

Der Rabe und der Fuchs

Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbarn hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.

Gerade wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, schöner Vogel!"

"Für wen siehst du mich an?" fragte der Rabe erstaunt.

"Für wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich auf diese Eiche herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe?"

Der Rabe freute sich, für einen Adler gehalten zu werden, überließ großmütig seinen Raub dem Fuchs und flog stolz davon.

Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl. Das Gift fing an zu wirken, und er mußte sterben.

Das hatte der Schmeichler davon.